Märchen als Tor zur Erinnerung
Das AZURIT Seniorenzentrum Zehnthof in Eisenberg setzt auf Märchen in der Arbeit mit Demenzkranken
„Es war einmal…“ – diese Beschwörung einer märchenhaften Vergangenheit kennt jeder. Beim Hören von Märchen werden Erinnerungen an die Kindheit wach; innere Bilder vertrauter Geschichten, in denen immer das Gute siegt. Diese Kraft der Märchen wirkt erstaunlich stark auf Demenzkranke, deren Kontakt zu Erinnerungen und Menschen sonst brüchig geworden ist. Das ist inzwischen wissenschaftlich belegt. Das AZURIT Seniorenzentrum Zehnthof setzt auf diese Kraft. Im März ist ein professioneller Märchenerzähler des Projekts „Märchen und Demenz“ zu Gast. Außerdem werden drei Mitarbeiterinnen zu Märchenerzählerinnen fortgebildet.
Das AZURIT Seniorenzentrum Zehnthof in Eisenberg ist damit eine von 25 Einrichtungen in Rheinland-Pfalz, die aktuell an dem Projekt „Es war einmal… Märchen und Demenz“ teilnehmen. Als anerkanntes präventives Projekt werden die Kosten von den Pflegekassen gezahlt. In Rheinland-Pfalz übernimmt die Kosten die AOK Rheinland-Pfalz/Saarland im Rahmen einer Gesundheitspartnerschaft.
„Wir freuen uns sehr darüber, dass wir unseren Bewohnern dieses ungewöhnliche Angebot machen können,“ sagt Einrichtungsleiter Hendrik Meinen. An vier Terminen im März ist der Märchenerzähler Phillip Sponbiel des Berliner Unternehmens Märchenland im AZURIT Seniorenzentrum Zehnthof zu Besuch.
Demenzerzähler: Schauspieler mit Know-How zu Demenz
Märchenland hat einen Pool an professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, die nicht nur lebendig und frei Märchen erzählen können, sondern besonders im Umgang mit dementen Menschen geschult sind und einfühlsam auf sie eingehen können. Das Projekt „Märchen und Demenz“ geht dabei weit über das hinaus, was man mit einem Märchenonkel assoziieren mag: Das Konzept für das Projekt basiert bis in kleine Details auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, um auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz eingehen zu können.
Rituale als Pfade in die Vergangenheit
„Bei Demenz sind das A und O Rituale und Wiedererkennungseffekte als Pfade in die Vergangenheit,“ erklärt Silke Fischer, Geschäftsführerin von Märchenland. Entsprechend finden die Märchen-Stunden in einer klaren Struktur und immer am selben Tag, zur selben Zeit statt. Erster Wiedererkennungseffekt: Das glitzernde Gewand, in das der Märchenerzähler schlüpft.
Verlorengeglaubte Kompetenzen kommen wieder
Weil Märchen „Menschheitsgeschichten“ sind, wie Silke Fischer sagt, und das quer durch alle Kulturkreise, weil in ihnen universelle Gefühle und Beziehungen erzählt werden, können sie ein Tor zu eigenen Gefühlen, zu Erinnerungen und Beziehung sein: „Die Märchen finden den direkten Weg in die Erinnerung, in das kognitive Gedächtnis, wo sich die Leute erinnern. Wenn Märchen von vertrauten Menschen erzählt werden, finden sich demenziell Erkrankte wieder zurecht. Sie können mitsprechen, und verlorengeglaubte Kompetenzen kommen wieder.“
Studien und Rückmeldungen der letzten Jahre aus Pflege-Einrichtungen belegten: Märchen aktivieren emotional das Langzeitgedächtnis und erreichen damit auch Menschen mit Demenz. Märchen beruhigen und beugen Depressionen vor. Durch das Hören von Märchen werden Aktivität und kognitive Fähigkeiten gesteigert. Demenzkranke teilen sich wieder mit – was sich wiederum positiv auf die Pflege und Betreuung von demenziell erkrankten Menschen auswirkt. Auch Angehörige können mit dem Vorlesen von Märchen Schweigen und Hilflosigkeit überwinden. So sind Märchen nicht nur für Menschen mit Demenz Trost und Glück, sondern auch für die Menschen, die ihnen nahestehen.
Märchen erzählen im Pflege-Alltag: Anerkannte Fortbildung
Um Märchenhören für die Bewohner des AZURIT Seniorenzentrums Zehnthof zum Alltag werden zu lassen, werden demnächst drei Mitarbeiterinnen zu Märchenerzählern fortgebildet: Sie lernen, Märchen verständlich, lebendig und effektvoll vorzulesen, den Märchenfiguren eine Stimme zu geben und Märchen gezielt als Mittel zu nutzen, um mit Demenzkranken in Kontakt zu kommen. Detailliert ausgearbeitetes Material steht den Märchen-Erzählerinnen dann zur Verfügung. An erster Stelle ein speziell präpariertes Märchenbuch – und der goldene Märchenmantel. Er hilft den Pflegenden, in die ungewohnte Rolle zu schlüpfen und setzt bei den Bewohnern einen positiven Erinnerungs-Anker. In der Pandemie-Zeit kam dazu ein umfangreiches Paket an digitalen Vorlese-Formaten und DEFA-Märchenfilmen der 1960er Jahre.
Auch die Fortbildung wird von Schauspieler und Demenz-Erzähler Philip Sponbiel durchgeführt. Und auch das gehört zum Konzept des Projekts: Nach vier Märchen-Terminen in der Einrichtung ist erfahrungsgemäß für die künftigen Märchenerzähler eine Vertrauensbasis geschaffen, um einmal etwas ganz Neues auszuprobieren.
„Es war einmal…“ wird also ein Satz sein, der im AZURIT Seniorenzentrum Zehnthof bald häufig zu hören sein wird.